Analyse wandelbarer, starrer Faltstrukturen mit Anwendungsbeispielen
DGfGG Tagung 2015, Karlsruhe

Karl-Heinz Brakhage, Institut für Geometrie und Praktische Mathematik
Henri Buffart, Lehrstuhl für Tragkonstruktionen
RWTH Aachen, Germany

Stichwörter: Wandelbarkeit, Faltung, Faltkonstruktion, Faltstruktur, Rigidity, Origami.

Abstract
In dieser Arbeit werden zwei Methoden vorgestellt, welche die Untersuchung und Animation wandelbarer Faltungen ermöglichen. Diese werden angenommen als biegesteife, ebene Flächen, die an ihren Kanten durch Drehgelenke verbunden sind. Für den kinematischen Ablauf des Faltvorgangs werden zwei mathematische Modelle aufgestellt, die anschließend mittels numerischer Verfahren für Animationen verwendet werden.


Einleitung

Die Funktionalität kinematischer Faltkonstruktionen besteht in der Kombination von tragkonstruktiver Wirkung, der Geometrie einer kontinuierlichen Fläche und dessen Wandelbarkeit. Die Strukturen erlangen immer mehr Bedeutung in einem sehr breiten Spektrum von Anwendungen: kompakte Sonnensegel für Raumstationen, selbsttragende überdachungen oder selbstentfaltende Stents in de Vaskulärmedizin. Obgleich ein dauerhaft wandelbarer Mechanismus oder ein möglichst kompakter Transportzustand angestrebt wird. Die technische Origami verspricht hier Lösungsansätze (siehe [6]).

Entgegen der klassischen Origamikunst, bei der eine Papierfläche ausschließlich durch Falten und ohne Schneiden oder Fügen zu manipulieren ist, werden bei der technischen Betrachtung Faltungen als Mechanismen behandelt. Bei diesen Konstrukten aus biegesteife, ebene Flächen, die an ihren Kanten durch Drehgelenke verbunden sind, stehen die kinematischen Zwangsbedingungen, bistabile Zustände und Wandelbarkeit im Fokus.

Eine tragfähige Konstruktion setzt eine bestimmte Dicke der Faltfacetten und eine entsprechend konstruktive Auslegung der Falten bzw. Scharniere voraus. Es wird auf Überlegungen diesbezüglich verzichtet, da die vorgestellten Methoden auf die systematische Analyse der für entsprechende Fragestellungen typischen Problemen vom Design des Faltmusters über den ideellen kinematischen Ablauf bis hin zu Realisierungsmöglichkeiten abzielen. Auch wird von der Analyse nahezu dickeloser Materialien (dünne Bleche, Papier, Kunststofffolien) abgesehen, da die exakte Erfassung materialimmanenter Gelenke einer grundlegend anderen Methodik bedarf. Prinzipielle Überlegungen zu der Erzeugung von Konstruktionen mit dicken Platten trotz Beibehalten des kinematischen Faltvorgangs des ideellen Faltmodells sind in [12] und [13] dokumentiert.

Einige aus der technischen Origami bekannten Axiome zur Faltung können für die Methoden hinzugezogen werden, sind aber nicht hinreichend: Es ist zu gewährleisten, dass alle möglichen Zustände eines Faltwerks von seinem kompaktesten Zustand bis hin zu der maximalen Entfaltung ohne Verwindung und Selbstdurchdringung der Facetten sind.

Dies soll am Beispiel der Falttasche und einem Faltwerk aus der Architektur illustriert werden. Bereits 1867 erfand Margaret Knight eine Maschine zum automatischen Kleben und Falten von Papiertaschen (siehe [8]). Bild 1 links zeigt das klassische Faltmuster dazu. Taschen dieser Art lassen sich zwar aus Papier falten, sind aber nicht starr faltbar (siehe [3]), d.h.: Dieses Faltmuster eignet sich z.B. für wandverstärkte Mehrwegkunststofftaschen nicht. Nur in der Start- und Endlage sind die Wände eben. Bild 1 rechts zeigt eine mögliche Erweiterung des Faltmusters (siehe [14]). Für einen eingeschränkten Bereich von Ausdehnungskoeffizienten ist der Faltvorgang starr durchführbar. Dabei wird die Dicke des Materials vernachlässigt.

Bild 1
Bild 1: Links: Klassische Falttasche mit bekanntem Faltmuster - nicht faltbar, wenn die Facetten starr sind. Rechts: Erweiterter Faltpattern - im gewissen Rahmen starr faltbar.

Neben den in Bild 1 gezeigten Beispielen wird das Modell einer wandelbare Dachkonstruktion vorgestellt, deren kinematischer Ablauf analysiert wird hinsichtlich der Aktorenwahl für automatische Bewegungsabläufe diskutiert wird. Dies geschieht sowohl mit Computeranimationen als auch mit Modellen. Wertvolle Informationen zu diesen Themen findet man auch auf den Webseiten von Tomohiro Tachi [16] und Robert Lang [15].

Es gibt zahlreiche Axiome aus der technischen Origami, die alle auch für starr faltbare Strukturen erfüllt sein müssen. Als inhaltsrelevante Bedingungen seien der

Satz von Maekawa
Für jedes flach faltbare Origami unterscheidet sich die Anzahl der Tal- von den Bergfalten um zwei.

und der

Satz von Kawasaki
Für jedes flach faltbare Origami ist die Summe der (un)geraden Sektor Winkel 360°/2.

genannt. Es wird bewusst darauf abgezielt wandelbare Faltstrukturen allgemein untersuchen zu können. Insbesondere ist dabei von Bedeutung, dass ein Faltwerk in seinen Extremzuständen nicht (wie im herkömmlichen Origami) planar sein muss: dies bringt gestalterische wie auch tragkonstruktive Vorteile.


Von der geometrischen Überlegung zur Analysis - oder: Wie lassen sich Faltstrukturen festlegen

Wir wollen nun mittels geometrischer Überlegungen die Grundideen für die zwei Modelle erarbeiten, um daraus jeweils eine analytische Beschreibung zu bekommen.

Das erste Modell basiert auf der Beschreibung der Faltstruktur über die Faltwinkel der inneren Kanten. Dieses Modell wird z.B. von Tachi in seinem Rigid Origami Simulator benutzt ([11]). Es geht auf eine Arbeit von Belcastro und Hull ([4]) zurück, die eine mathematische Beschreibung (Bedingung) an einem einzelnen (inneren) Punkt über die Faltwinkel der benachbarten Kanten bestimmen. Die Anzahl der an einem Vertex ankommenden Kanten heißt Valenz. Wir wollen die in [4] analytisch hergeleiteten Bedingungen geometrisch für einen Punkt mit vier angrenzenden Kanten - also Valenz 4 - begründen. Die angrenzenden Facetten / Paneele nehmen wir der Einfachheit halber als gleichschenklige Dreiecke mit Einheitslänge an; d.h. wenn der innere Vertex im Ursprung liegt, dann liegen die angrenzenden Punkte auf dem Einheitskreis. Es dürfen in der Praxis aber statt der speziellen Dreiecke beliebige, ebene n-Ecke sein.
Bild 2 Bild 2 Bild 2
Bild 2 Bild 2 Bild 2
Bild 2: Zur geometrischen Begründung der Bedingungen an die Faltwinkel um einen Vertex mit Valenz 4.
In der Ausgangslage ist die Struktur zunächst eben und durch die Winkel αi zwischen den Kanten eindeutig bestimmt. Diese Ausgangslage ist in Bild 2 oben links zu sehen. Alle Dreiecke liegen in der x-y-Ebene. Wir orientieren uns an dem uns zugewandten Dreieck (grün). Dieses sei durch den Winkel α4 bestimmt und es sei schon so orientiert, dass eine Seite auf der nach rechts zeigenden x-Achse liegt und die zweite mit dem Winkel α4 im Uhrzeigersinn (mathematisch negativ) gelegen ist. Wir schneiden die Struktur längs der Kante in x-Richtung auf. Dann drehen wir immer abwechseln um die z-Achse mit dem festen Winkel αi und dann um die x-Achse mit dem zu bestimmenden Faltwinkel ρi. Die Zwischenstände sind alle in Bild 2 fortlaufend zu sehen. Wir haben hier eine berechnete Winkelkombination für die Faltwinkel gewählt. Nach der ersten Drehung um die z-Achse mit dem Winkel α4 (gegen den Uhrzeigersinn, mathematisch positiv) zeigt die nächste Faltkante in Richtung der x-Achse. Nun drehen wir unser beobachtetes Dreieck mit dem Winkel ρ4 um die x-Achse. Die Struktur ist jetzt nicht mehr geschlossen. Diesen Vorgang führen wird dann mit den Winkeln α3 und ρ3 analog durch. Dabei landet unser Ausgangsdreieck zufällig so, dass es fast einen Teil der y-Achse enthält. Nach der Drehung mit den Winkeln α2 und ρ2 hat sich unsere Struktur bereits wieder geschlossen. Unser beobachtetes Dreieck ist aber nicht in der Ausgangslage. Diese Situation ergibt sich erst nach zwei weiteren Drehungen mit den Winkeln α1 und ρ1. Nun liegt unser beobachtetes Dreieck wieder in der Ausgangslage. Das bedeutet: Das Produkt aller angewandten Drehmatrizen ist die Einheitsmatrix. Die übrigen Dreiecke sind nicht mit allen Drehmatrizen multipliziert worden. Sie liegen daher i.a. nicht wieder in der x-y-Ebene. Man sieht dies im Bild u.a. daran, dass sie im beleuchteten Modell anders schattiert sind (anderer Aufprallwinkel der Lichtquelle) und die y-Achse unter Dreieck 4 liegt.

Mathematische Kenntnisse über die Eigenschaften von Drehmatrizen lassen uns aus der Bedingung, dass das Produkt der Drehmatrizen die Einheitsmatrix ist, drei unabhängige Gleichungen extrahieren, z.B. die drei Diagonaleinträge gleich 1 oder die drei Einträge oberhalb der Diagonale gleich 0. Im Fall der 4 Faltkanten (Valenz 4) unseres Beispiels bleibt also i.a. ein Freiheitsgrad übrig. Bei Valenz 5 wären es zwei usw. Die Gleichungen sind hochgradig nichtlinear und man muss für alle vorkommenden Valenzen n die Produkte mit Variablen α1 und ρ1 analytisch berechnen. Für jeden inneren Vertex muss dann in der Faltstruktur die zur Valenz gehörige Drehmatrix gewählt werden. Anschließend werden die zu diesem Vertex gehörenden α1 eingesetzt und es bleiben drei Gleichungen, in denen nur noch die ρ1 mit Sinus- und Kosinuswerten vorkommen.

Setzt man diese Gleichungen für alle Punkte zusammen, so erhält man das zur Faltstruktur gehörige Gleichungssystem in Abhängigkeit von den Faltwinkeln. Damit die Faltstruktur beweglich ist, muss dieses Gleichungssystem in jeder Faltsituation bei m Faltkanten höchstens m-1 linear unabhängige Gleichungen enthalten. Wir werden später auf Berechnungsmöglichkeiten eingehen.

Die gerade beschriebene Vorgehensweise hat den Vorteil, dass die Definition der Struktur über die Angabe der α1 recht einfach ist. Ein Nachteil ist allerdings, dass die Gleichungen zur Bestimmung der ρ1 aufwendig sind. Der Drehung um die z-Achse mit dem festen Winkel αi und dann um die x-Achse mit dem zu bestimmenden Faltwinkel ρi entspricht mathematisch die Multiplikation mit einer Matrix Rxi)⋅Rzi), dabei beschreibt die Matrix Rxi) die Drehung um die x-Achse und Rzi) die um die z-Achse. Das Produkt aller Drehungen soll die Einheitsmatrix sein, also für Valenz n: Πi=1nRxi)⋅Rzi)=I, was wir zunächst zu Πi=1nFii)=I zusammenfassen, denn die αi sind ja fest vorgegeben. Insgesamt können wir das dann nach Auswahl von drei unabhängigen Gleichungen als F(ρ1, ρ2, ..., ρn)=0 schreiben. Hat eine Faltstruktur mehr als einen inneren Vertex - etwa l, so werden zunächst auch für die übrigen Vertices mit ihren angrenzenden Faltkanten die αi fortlaufend benannt. Dann wird das gerade beschriebene Prozedere an jedem dieser Punkte durchgeführt. Dazu müssen auch alle m Faltkanten (inneren Kanten) fortlaufend durchnummeriert und für jeden Vertex die ρi und αi entsprechend ausgewählt werden. Dies ergibt dann insgesamt 3⋅l Gleichungen in den m Unbekannten ρi. Dies schreiben wir als F(X)=F(ρ1, ρ2, ..., ρn)=0. Soll diese Struktur beweglich (faltbar) sein, so dürfen maximal m-1 der 3⋅l Gleichungen unabhängig sein.

Unser zweites Modell beruht auf folgender Überlegung: Eine (ebene) Fläche unserer Struktur sei durch die drei Punkte A, B und C gegeben (siehe Bild 3). Ferner sei der Vertex P mittels einer Kante mit B verbunden. Diese Kante grenzt an die durch die Dreiecke Δ(A,B,P) und Δ(C,B,P) gegebenen (ebenfalls ebenen) Flächen unserer Faltstruktur. Der Vertex P ist dann durch die drei gegeben Abstände r, s und t (i.a. zweideutig) bestimmt. Der gesuchte Punkt P ist Schnittpunkt der drei Kugeln K(A,r), K(B,s) und K(C,t). A,P und C,P können dabei sowohl Faltkanten als auch Diagonalen sein.
Bild 3
Bild 3: Geometrische Abstandsbedingungen für über Kanten verbundene Vertices.

Wir wollen dieses Konzept nun zu einem zweiten Modell für Faltstrukturen ausbauen. Dazu betrachten wir im Bild 4 die linke Skizze. Es handelt sich im Prinzip um die gleiche Situation wie in Bild 2. In P stoßen vier Flächen aneinander. Die Konstellation ist durch die Punkte P, A, B, C und D gegeben. Der vierte Punkt jeder Fläche lässt sich als Linearkombination der übrigen drei schreiben. Also etwa E=α⋅A + β⋅B + γ⋅C. Dies gilt entsprechend für weitere Punkte, wenn die (ebene) Fläche durch mehr als vier Punkte gebildet wird. Diese Linearkombination bleibt in jede Lage im Raum gültig. Wir können uns also bei der Analyse auf P und die vier per Faltkante mit P verbunden Punkte beschränken. Diese fünf Punkte besitzen je drei Koordinaten, was zusammen 15 Freiheitsgrade ergibt. Da die Konstellation lageunabhängig seien soll, müssen wir davon 6 direkt wieder abziehen - drei für den Ort und drei für die möglichen Drehungen; bleiben also 9 Freiheitsgrade. Dazu haben wir die Vorgabe von 8 Längen (entsprechend r, s und t von oben). Das sind die vier Verbindungen von A bis D mit P und die vier Verbindungen von A bis D untereinander. Letztere sind Diagonalen in unseren Ausgangsvierecken und in Bild 4 gestrichelt wiedergegeben. Somit bleibt uns ein Freiheitsgrad erhalten. Sind zudem die Bedingungen der Sätze von Maekawa und Kawasaki erfüllt, so haben wir ein flach faltbares Origami. Wird z.B. der Satz von Kawasaki verletzt, so bleibt unsere Struktur faltbar, ist aber nicht von flach in flach faltbar.
Bild 4 Bild 4
Bild 4: Beschreibungen zweier elementarer Faltstrukturen über Abstandsangaben.

Bevor wir uns der allgemeineren Figur widmen, wollen wir noch kurz erwähnen, wie die analytische Beschreibung aufgebaut ist. Die Lage kann z.B. dadurch fixiert werden, dass wir ein Viereck festlegen. Da wir aber später mit dem Programm zu diesem Modell auch Längen variieren wollen, gehen wir etwas anders vor. Wir legen dazu von einer Fläche einen Punkt ganz fest, einen zweiten auf eine Gerade durch den ersten und einen dritten in eine Ebene, die die Gerade enthält. In unserem gerade behandelten Beispiel wäre das z.B.: P=(xP,yP,zP)=(0,0,0), A=(xA,yA,zA)=(xA,0,0) und B=(xB,yB,zB)=(xB,yB,0). Das sind für P drei Gleichungen, für A zwei und für B eine; also wie gewünscht zusammen sechs. Kantenlängen lassen sich wie folgt beschreiben. Sind die Punkte Xi=(xi,yi,zi) und Xj=(xj,yj,zj) durch eine Kante der Länge rij verbunden, so muss die Gleichung (Xi-Xj)2 - rij2 = 0 erfüllt sein. Dabei bezeichnet das Quadrat der Punktedifferenz das Skalarprodukt. Wird ein Punkt als Linearkombination von drei anderen geschrieben, so lautet die zugehörige Gleichung Xi = αi1⋅Xi1 + αi2⋅Xi2 + αi3⋅Xi3 . Die αij können in der Ausgangslage berechnet werden.

Kommen wir nun zu der Figur in Bild 4 rechts. Der Einfachheit wegen legen wir hier das schattierte Viereck (unten links) fest. Somit bleiben 12 freie Punkte, die 8 Vierecke beschreiben. Von jedem Viereck muss ein Punkt Linearkombination der übrigen drei sein, bleiben vier (echt) freie Punkte und damit 12 Freiheitsgrade. Wir starten mit der an das (schattierte) Ausgangsviereck angrenzenden Geometrie. Diese ist uns bereits aus der vorherigen Überlegung bekannt. Wir haben mit zwei Faltkanten und drei Diagonalen fünf quadratische Abstandsgleichungen für die sechs Freiheitsgrade, die durch die Punkte E und F gegeben sind. Mit E und F bekommt man die Punkte G, H und I als Linearkombination (je drei Punkte vom Viereck gegeben). Das ist dann bis hier die vollständige Konstellation der Figur rechts. Die Vervollständigung kann z.B. so erfolgen: Drei quadratische Abstandsbedingungen für J, dann K und L als Linearkombination und schließlich weitere drei quadratische Abstandsbedingungen für M. Damit liegen insgesamt 11 quadratische Gleichungen vor und die Struktur bis zu diesem Punkt ist beweglich. Die Punkte N und O ergeben sich wieder als Linearkombination. Es bleibt die Bedingung, dass ||O-I||=r12 sein muss. Das bedeutet, dass es für die allgemeine Wahl der vorgegebenen Längen die gesamte Faltstruktur nicht beweglich ist. Dies ist bekannt und wird mindestens seit 1932 untersucht, siehe [9]. Nur für spezielle Wahl der Ausgangslage ist die Struktur flexibel. Neuere Untersuchungen zu diesem Gebiet (Miura-ori Faltungen) findet man z.B. in [10].
Bild 5 Bild 5
Bild 5 Bild 5
Bild 5: Selbstdurchdringungen im Faltprozess

Mit unserem Algorithmus zu diesem Modell lassen sich auch Faltstrukturen berechnen und animieren, die keine ebene, geschlossene Ausgangslage haben. Weiterhin lassen sich durch Modifikationen der Längen die Strukturen modifizieren. Ferner haben wir für einige spezielle Modelle, direkt Parameter eingebaut, die speziellen Einfluss auf die Faltung haben. Wir stellen unten einige Beispiele dazu vor.

Wir beschließen diesen Abschnitt mit dem Beispiel einer weiteren Falttasche. In der Einleitung hatten wir bereits darauf hingewiesen, dass die klassische Falttasche nicht starr faltbar ist. In einer Dissertation von 2004 ([2]) wird dann die in Bild 5 oben links zu sehende Ergänzung von (insgesamt acht) Faltkanten vorgeschlagen. Oben rechts sieht man einen Teil dieser Falttasche, den wir mit unserem Animationsprogramm einfalten. Die untere Reihe zeigt zwei Zwischenstationen. Rechts sieht man den Beginn einer Selbstdurchdringung. Auch diese Falttasche ist also nicht starr faltbar, wie diese simple Animation zeigt. Weitere Informationen und Paramterstudien dazu findet man erstmals in [14], also 7 Jahre später.

Die animierte Falttasche entspricht übrigens topologisch dem Muster in Bild 4 rechts. (wenn man erlaubt, dass mit z.B. L=J und I=C Punkte zusammenfallen) Da die Winkelsumme an den inneren Vertices aber nicht 360° sondern 270° ist, ist dieses Beispiel nicht von flach in flach faltbar. Weiterhin hatten wir ja schon festgestellt, dass die Konstellation nur für eine spezielle Wahl der Längen flexibel ist. Hier bringt uns die Symmetrie (Kongruenz des vorderen und des hinteren Dreiecks) den benötigten Freiheitsgrad.


Numerische Behandlung der Gleichungssysteme

Ein nützlicher Zugang für die Berechnung faltbarer Strukturen ist die Davidenko Differentialgleichung (siehe [7]). Wir haben im vorherigen Abschnitt gesehen, dass die Beschreibung der Faltstrukturen in den beiden Modellen auf eine Gleichung der Form F(X)=0 führt. Dabei sind für das erste Modell alle Faltwinkel ρi in zusammengefasst, also F(X)=F(ρ12,...,ρm).
Im zweiten Fall besteht unser X aus der Zusammenfassung der 3d-Vektoren Xi. Wir brauchen für die einparametrige Flexibilität in unseren Polyedern bei m Unbekannten m-1 unabhängige Gleichungen. Dieser Bedingung entspricht folgendes mathematische Modell: Es sei F(X)=0 mit F:Rm→Rm-1 glatt. X heißt regulärer Punkt von F, falls Rang(F'(X))=m-1 ist. Es existiert dann (zumindest lokal) eine Parametrisierung X(t) und aus F(X(t))=0 folgt F'(X(t))⋅X'(t)=0. X'(t) ist für reguläre Punkte bis auf Normierung und Richtung eindeutig bestimmt. Ausführliche Informationen zur Lösung dieser Aufgabenklasse findet man in [1].
Wir verwenden in unserer Implementierung für die Differentialgleichung orthogonale Transformationen zur Bestimmung von X', einen Prädiktor vom Adams-Bashforth Typ (Mehrschrittverfahren) und dann noch einen Korrektor folgender Art: Ergänze das unbestimmte, nichtlineare Gleichungssystem F(X)=0 durch eine weitere, einfach Gleichung um es zu einem bestimmten Gleichungssystem zu machen. Wir wählen meistens die Hyperebene durch den Prädiktor Xp mit der Normalen X'p. Zur Lösung verwenden wir das Newton-Verfahren mit Startwert Xp. Durch diesen Korrekturschritt kommen wir wieder auf unsere echte Trajektorie zurück. Dies ist bei einigen in der Literatur zu findenden Verfahren zur Faltungsberechnung nicht so. Daher kann es bei diesen Verfahren passieren, dass die Fehler im Laufe der Rechnung zu groß werden, um realistische Vorhersagen für das Verhalten des Modells zu treffen.

Will man dieses Prinzip auf unsere Modelle anwenden, so besitzt das zweite für die Durchführung einen entscheidenden Vorteil. Es besteht nur aus linearen und quadratischen Gleichungen. Sowohl F(X) als auch F'(X) bestehen aus elementaren Einträgen, die sich ohne weitere analytische und algebraische Vorarbeiten direkt programmtechnisch umsetzen lassen. Zudem kann dieses Modell auch direkt über die Modifikation von Kantenlängen die Faltstruktur ändern. Die Schwierigkeit bei diesem Modell ist es, eine zulässige Wahl der maximal unabhängigen Bedingungen zu treffen. Um dies zu umgehen, dürfen für unsere Implementierung auch weitere Gleichungen vorkommen. Dann ist F(X)=0 mit F:Rm→Rm-1+k. Für die Flexibilität entscheidend ist, dass weiter gilt Rang(F'(X))=m-1. Da wir orthogonale Transformationen verwenden, können wir nach wie vor unproblematisch an jeder Zwischenstelle bestimmen. Aus dem nichtlinearen Gleichungssystem im Korrektorschritt wird dann ein nichtlineares Ausgleichsproblem, das aber ein Residuum 0 hat. Zur Lösung verwenden wir das Gauß-Newton-Verfahren. Dieses hat hier, da das Residuum 0 ist, wie in [5] gezeigt, wie das Newton-Verfahren dann ebenfalls quadratische Konvergenz.

In der Ausgangslage unseres elementaren Faltmusters in Bild 2 oben links hat die Jakobimatrix F(X)=F(ρ1234) nur Rang 2. Es liegt also ein singulärer Punkt vor. Solche Stellen sind, wenn sie isoliert auftauchen, normalerweise Verzweigungspunkte, d.h. man kann die Faltung auf verschiedene Arten fortsetzen. Liegt so ein Punkt nicht gerade am Anfang (wie in diesem Fall), so wird man mit einem Verfahren vom obigen Typ über diese Stellen in der Regel hinweg schießen und in einem der Verzweigungsfälle landen, ohne die Singularität zu bemerken. Dies liegt daran, dass man den Verzweigungspunkt nicht exakt trifft. Nur in diesem isolierten Punkt hat die Jakobimatrix den Rangdefekt. Bild 6 zeigt ein anschauliches Beispiel für einen Verzweigungspunkt sowie die Folgen einer kleinen Störung. Unser Algorithmus kann solche Punkte im Rahmen der numerischen Genauigkeiten finden.
Bild 6
Bild 6: u⋅(u2-1)+v2-c=0 : Verzweigungspunkt für c=0 und Isolinien für c=±0.0001.

Wählt man in unseren Modellen einen Aktor, so wird aus dem unterbestimmten nichtlinearen Gleichungssystem ein bestimmtes. Für das erste Modell ist das ein ρi. Dies lässt man in einem vorgegebenen Intervall variieren. Beim zweiten Modell kann man eine zusätzliche Vertexverbindung hinzufügen und deren Länge variieren. Im Bild 4 wäre das z.B. die zwischen A und F oder C und E. In beiden Modellen wird für den nichtlinearen Löser als Startwert die vorherige Lösung genommen.

Die Faltung gemäß Bild 4 lässt sich dann in Reihenfolge der oben beschrieben Schritte sogar sukzessiv über die Schnittpunktberechnung von je drei Kugeln be-rechnen. Je zwei Kugeln schneiden sich in einem Kreis. Der liegt in einer Ebene, deren Hessesche Normalform sich einfach berechnen lässt - man subtrahiert die quadratischen Gleichungen der Kugeln voneinander. Zwei solche Ebenen schneiden sich in einer Geraden. Die wiederum führt beim Schnitt mit einer Kugel auf eine quadratische Gleichung. Allgemeine Fälle lassen sich so natürlich nicht lösen. Auch hier verkraftet unsere Implementierung zusätzliche, nicht unabhängige Gleichungen.


Weitere Beispiele

Bild 7 zeigt die Konstruktionsidee für ein wandelbares Dach. Den Parameter Δ haben wir als freien Parameter direkt eingebaut. Er kann in der Animation daher laufend mit verändert werden. So kann sein Einfluss auf den maximaler Entfaltungszustand und die maximale Kompaktierung direkt beobachtet werden. In Bild 8 ist eine Momentaufnahme der Animation gezeigt. Sie hat mehrere horizontale Plateaus, die es z.B. ermöglichen, das Gebilde auf eine horizontale Unterlage zu stellen.

Weitere Beispiele, Bilder und einige Demoprogramme findet man hier [17].
Bild 7
Bild 7: Abwicklung eines Viertels der in Bild 8 vorgestellten wandelbaren Struktur. Δ kennzeichnet die Abweichung der roten Winkel von den Werten, mit denen diese das Kawasaki-Theorem erfüllen würden.
Bild 8
Bild 8: Wandelbares Dach als Anwendungsbeispiel für eine nicht planare Ausgangssituation: An den Vertices liegt ein Verstoß gegen den Satz von Kawasaki vor. Das Faltmuster in eine an zwei Achsen gespiegelte Weiterentwicklung des bekannten Origami-Twists.
Bild 9 Bild 9
Bild 9: Ausgewählte Zustände der wandelbaren Dachstruktur, wobei a) maximaler Entfaltungszustand ist und f) maximale Kompaktierung. Es wurden an der hier ver-wendeten Geometrie weitere Facettenwinkel geändert, um stets eine dreidimensio-nale (stabile) Struktur zu gewährleisten.



Zusammenfassung und Ausblick

Geometrische Überlegungen führen auf mathematische Modelle wandelbarer Falt-strukturen mit starren Faltflächen. Diese lassen sich mittels (bekannter) numerischer Verfahren behandeln. Die lückenlose Analyse der Kinematik eines Faltwerks ist der Grundbaustein für Simulation und Parameterstudien, anhand dessen strukturell ausformulierte, belastbare Konstruktionen erzeugt werden können. Das Einbringen von Plattendicke, Aktoren und Scharnierauslegung sind die nächsten bautechnischen Schritte in dem Entwicklungsprozess wandelbarer Faltkonstruktionen.
Bild 10
Bild 10: Ansatz für die strukturelle Ausformulierung der wandelbaren Dachstruktur unter Berücksichtigung der notwendigen Flächenträgheitsmomente in den Faltflächen.


Referenzen
[1] Allgower, E.L., Georg, K., Continuation and path following, Acta Numerica 2 (1993), pp1-64.
[2] Balkcom, D. J., Robotic Origami Folding, PhD Thesis (2004), CMU-RI-TR-04-43.
[3] Balkcom, D. J., Demaine, E. D. & Demaine, M. L., Folding paper shopping bags. In Proc. of the 14th Annual Fall Workshop on Computational Geometry, Cambridge, MA, 2004 November 19-20, pp14-15, cgw2004.csail.mit.edu/proceedings.pdf (erweiterte Version: martindemaine.org/papers/PaperBag_OSME2006/paper.pdf).
[4] Belcastro, S., Hull, T., Modeling the folding of paper into three dimensions using affine transformations, Linear Algebra and its Applications, Volume 348, Issues 1-3, pp273-282.
[5] Brakhage, K.-H., Analytical Investigations for the Design of Fast Approximation Methods for Fitting Curves and Surfaces to Scattered Data, IGPM Preprint (2016), submitted for publication, www.igpm.rwth-aachen.de/brakhage/veroeff.html.
[6] Buffart, H.; Trautz, M.: Construction Approach for Deployable Folded Plate Structures without Transversal Joint Displacement. Proceedings of Transformables 2013, 18.-20.09.2013, Sevilla.
[7] Davidenko, D, On a new method of numerical solution of systems of nonlinear equations, Dokl. Akat. Nauk USSR 88 (1953), pp601-602 (in russisch).
[8] Knight, M. E., Paper bag machine, U.S. Patent 116,842, July 11 1871.
[9] Kokotsakis, A., über bewegliche Polyeder, Math. Ann. 107 (1932), pp627-647.
[10] Stachel, H., Remarks on Miura-ori, a Japanese Folding Method, International Conference on Engineering Graphics and Design (2009).
[11] Tachi , T., Simulation of Rigid Origami, Proceedings of 4OSME, pp. 175-187, 2009.
[12] Tachi, T.,Rigid-foldable thick Origami. Fifth International Meeting of Origami Science, Mathematics, and Education (OSME), A K Peters/CRC Press, 2011, pp. 253-263.
[13] Trautz, M., Das Prinzip des Faltens. Detail-Zeitschrift Für Architektur Und Bau-detail 12/2009, pp. 1368-1376.
[14] Wu, W. & You, Z., A solution for folding rigid tall shopping bags, Proc. R. Soc. A (2011) 467, pp2561-2574.
[15] Webseite von Robert Lang: www.langorigami.com/.
[16] Webseite von Tomohiro Tachi: www.tsg.ne.jp/TT/.
[17] Demoprogramme und weitere Bilder zu diesem Artikel: www.igpm.rwth-aachen.de/brakhage/DGfGG15.

Karl-Heinz Brakhage ist am Institut für Geometrie und Praktische Mathematik der RWTH Aachen beschäftigt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf den Gebieten CAGD, CAx Technologien, Git-tergenerierung, wissenschaftliches Rechnen sowie Lehr- und Lernsoftware. >> www.igpm.rwth-aachen.de/brakhage

Henri Buffart ist wissenschaftlicher Angestellter am Lehrstuhl für Tragkonstruktionen und forscht schwerpunktmäßig an der technischen Anwendung von Faltung, insbesondere untersucht er die Gattung der wandelbaren Faltkonstruktionen. >> www.trako.arch.rwth-aachen.de/team/mitarbeiter/henri-buffart.php